Das Gesetz der Konvention

Kurzfassung: Nichts dominiert unseren sozialen Alltag so stark wie die Konvention. Die Alternativloskeit der meistgewählten Alternative hat Vor- und Nachteile.

Menschen sind in ihrem Verhalten nie so frei, wie sie es theoretisch sein könnten. Diese Wahrnehmung springt dem Soziologischen Blick allzu häufig ins Auge. Du verhälst dich häufig Erwartungen entsprechend; du wählst den bereits gewählten Weg; du bist konventionell.

Eine Erklärung ist im Allgemeinwissen auch schon angekommen. Um der Last der vielfältigen Entscheidungsmöglichkeiten zu entrinnen wird der Mensch zum Herdentier. Die Evolution vielfach sehr ähnlich, aber doch immer etwas anders, wiederholter Handlungen und Prozesse bildet ein “survival of the fittest”-Modell, oder suggeriert zumindest ein solches. Ein mehr-als-minimales Abweichen (oder gar ein Umwerfen!) der rapide eingeschliffenen “Art wie etwas gemacht wird” wirkt bald kindlich naiv oder blasphemisch selbstüberschätzt. Die Konvention wurde Gesetz.

Warum? — Vorteile

  • Aufbauen auf Vorherigem -> Sind wir in der Lage vorgegebene Prozesse zu erkennen und bereit, diese aufzugreifen, etablieren wir einen Wagenhebereffekt, welcher uns erlaubt gelernte Lektionen unserer “Vorfahren” aufzunehmen, ohne die Anstrengungen auf uns nehmen zu müssen, welche hinter diesen Lektionen verboren sind. (1)

  • Wir können die Konvention sanft an unsere eigenen Umstände und Bedürfnisse anpassen, dafür auch viel Zeit und Aufwand verwenden, da der Rest des Systems ja bereits durchdacht ist. (2)

  • Unser Verhalten ist für andere Akteure leichter nachvollziehbar, weil das Verhalten bekannt ist. Andersherum das gleiche Spiel. Alle Akteure können dadurch besser mit dem Verhalten der Anderen planen und fühlen sich sicherer.(3) Auch andere Prozesse, welche die jeweilige Konvention nur am Rande betreffen, können sich abstimmen. (4)

Warum nicht? — Nachteile

  • Unerwünschte Limitation beim Design offener Systeme (5) -> Die Tendenz zur Konvetionsvergesetzlichung ist zu stark um Systeme wirklich zuverlässig offen zu gestalten und zu schwach um Systeme zuverlässig geschlossen zu halten. (6)

  • Verlust an Lösungsvielfalt und damit verbunden gesteigerte Anfälligkeit gegenüber wandelnden Anforderungen (7) -> Im Kontext starker Konventionsvergesetzlichung verlieren Alternativen zur Konvetion ihre Legitimation. Waren diese zu einem früheren Zeitpunkt womöglich gleichwertige Wahlmöglichkeiten wird ihre Anwendung, mit zunehmender Gebräuchlichkeit der Konvention, immer unwahrscheinlicher.

    • Das Etablieren gänzlich neuer Lösungsvorschläge wird dadurch auch eingeschränkt. Oft wird durch starke Konventionen die Innovationsfähigkeit in einem Bereich limitierend beeinflusst. Neue Lösungsvorschläge sind immer auch ausgerichtet auf die bestehende Konvention (Durch beeinflusste Denkmuster und durch beeinflusste, zu berücksichtigende Realzustände (8))

Wie umgehen mit Konventionen? Der einzig wahre Satz bleibt auch hier wahr: “Es kommt drauf an.”.
Und der häufig anhängbare Zu-Satz: “Das Wissen über den Sachverhalt bringt Verstehen und Lösung in komplexen Problemsystemen.”; bietet den wohl realistischsten — wenngleich allzeit unzufriedenstellenden — Lösungsvorschlag.

Wenn ein System (9) nicht funktioniert, wirf’ doch mal einen Soziologischen Blick auf die Konventionen der Akteure. Vielleicht sollte man an denen arbeiten. Und vielleicht, kannst du sogar darauf Einfluss nehmen.

Danke fürs Lesen! Bleib’ hübsch <3 (10)


(1) Modedesigner können beim Entwerfen vom Socken auf die Erfahrungen ihrer “Vorgänger” zurückgreifen, welche Fußmaße ihre Kunden haben.

(2) Ich überlege, ob ich die Socken anziehe, bevor ich die Hose anziehe, weil ich dann leichter die Socken bis zur Mitte meines Oberschenkels hochziehen kann, als wenn ich bereits die Hose anhätte. Ich überlege nicht, ob es nicht andere Klamotten geben sollte.

(3) Ich weiß, dass meine Kolleg*innen ziemlich genau um 12 Mittagessen gehen und diese wiederum wissen, dass ich mit Ihnen essen gehen will. Ich muss also nicht Angst haben, niemanden für mein Mittagessensgespräch zu haben, selbst wenn ich um 5 vor 12 noch in einem Arbeitsraum sitze, in einem Anruf bin, und nicht über meine Interessen Bescheid geben konnte.

(4) Kollegen legen mir — selbst wichtige Meetings — nicht in das leere Zeitfenster von 12 bis 12.30 Uhr.

(5) z.B. Sitzverteilungen in kreativ-dynamischen Arbeitsumgebnungen oder die Zusammensetzung von Personentrauben auf Netzwerkveranstaltungen.

(6) Die Konvention in der S-Bahn andere Leute nicht zu stören, schützt deinen Versuch in der Bahn zu Lesen nicht vor Leuten die am Handy störend laut sind. Sie bringt dich aber auch dazu, nicht selbst am Handy einen Videoanruf in der S-Bahn durchzuführen.

(7) (Zur Abwechslung mal wenig weltgefährdend) Ein Fest diktiert traditionelle Festtagsspeisen aus Fleisch - das Erleben des Festes ist anfällig gegen die Integration von Vegetarier*innen.

(8) Betrachtet man die Bemühungen zur Mobilitätswende ist das Finden von Beispielen trivial.

(9) Familienfeier, Demokratie, Arbeitsmeetings, Müllbeseitigung, Turnierorganisation im Fußballverein, der öffentliche Nahverkehr, der Bestellprozess an der Eisdiele, Krieg, die Organisation von Snacks am Spieleabend, etc. …

(10) Das Ende meiner Beiträge ist zwar eine Konvention, aber auch die Wahrheit.

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