Die Unvorstellbarkeit einer Zeit ohne Gegenwart — Ein sozialwissenschaftlich-philosophischer Gastessay
Kurzfassung: Heute ein längerer, wenngleich sehr kompakt geschriebener, Gastbeitrag der sich gewaschen hat! Ein Gedankenanstoß zur Wahrnehmung von Zeit mit einem genussvoll erfrischenden anachronistischem Daherkommen.
Die Tage hatte ich wieder einmal die Freude meinen langjährigen Studienfreund Marco Bochert zu sprechen. Als das Gespräch auf meine Webseite kam und ich ihn fragte, ob er nicht einen Beitrag verfassen möchte, schickte er mir postwendend zwei Essays zu. Das erste der Beiden darf ich dir heute feierlich präsentieren (das Zweite wird es in Zukunft gegeben haben).
Mit anachronistischer Brillianz verfasst und packend gehalten heute hier ein ausgezeichnetes Essay über Zeit- und Gegenwartswahrnehmung, das zwar etwas aus der in-5-Minuten-lesbar Reihe fällt, die sonst die Essays prägt, aber jedes Wort wert ist.
[Verfasst 2022, am Insittut für Philosophie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg im Rahmen einer Lehrveranstaltung zur Metaphysik der Zeit]
Danke Marco! Viel Spaß liebe:r Leser:in.
— Johannes Wellhöfer
Inhalt
Abschließende Kommentare
Der sprachliche Umgang mit Zeit
Slaughterhouse-Five
Zeitlose Aussagen
Billy Pilgrims Perspektive
Die A-Theorie McTaggarts
Einführende Worte
Die Perspektive der B-Theorie
Zeit und das geschriebene Wort
Literaturverzeichnis
Erklärung zur ordnungsgemäßen Abfassung der vorliegenden Arbeit
„Billy Pilgrim has come unstuck in time.” (Vonnegut, 1969, p. 23)
Abschließende Kommentare
Was war nun der Sinn dieses Experiments mit der achronologischen Struktur dieses Essays im Zusammenhang mit dem Inhalt? Zum einen ist da natürlich das Meta-Element in einer Arbeit über Slaughterhouse-Five eine ähnliche Struktur zu verwenden, um dieses Buch zu erläutern, aber darüber hinaus war es mir, wie bereits häufiger erwähnt, wichtig, die Erfahrung und nicht nur die Information zu vermitteln. Hierzu wollte ich etwas mit der eingeschränkten menschlichen Perspektive spielen, die Limitationen dieser aufdecken, um ein Verlangen nach einem Ausweg, den es nicht gibt, anzuregen. Hier wird dann auch die Problematik der B-Theorie deutlich, nicht etwa in der Validität ihrer metaphysischen Erklärungen, sondern in der Tatsache, dass sie ein Universum beschreibt, welches von Menschen nicht zu fassen ist. Die menschliche Wahrnehmung von Zeit ist an die Jetzt-Perspektive der Gegenwart gebunden, beschreibt die B-Theorie, mit ihrer Ablehnung der Gegenwart, dann überhaupt das, was wir mit erlebter Zeit verbinden? Auch wenn wir vermuten, dass sich etwas hinter dem Vorhang befindet, bleibt uns ein Blick leider verwehrt. Das Einzige, worüber wir tatsächliche empirische Aussagen treffen können, ist das, worauf wir direkten Zugriff haben, wie unsere Wahrnehmung der Zeit oder wie wir diese mit Sprache versuchen zu kodifizieren.
Der sprachliche Umgang mit Zeit
Wie in einem vorherigen Kapitel bereits beschrieben, muss man Aussagen, welche von einem bestimmten, zeitlich verankerten Ereignis handeln, je nach dem Moment der Äußerung anpassen, um dieselbe Proposition beizubehalten. Von der Gegenwartsperspektive aus kann ein Ereignis in einem Moment in der Zukunft und in einem anderen Moment in der Vergangenheit liegen, so verändert sich also auch die zeitliche Relation der Aussage, welche man tätigen möchte. (Gale, 1962, p. 53ff) Sprache ist ein komplexes und vielschichtiges System, welches selten in einem Vakuum anzutreffen ist, was bedeutet, dass Präpositionen meist vom Kontext ihrer Äußerung abhängig sind. So besitzen wir in unserer Sprache eine Vielzahl an Möglichkeiten, die zeitliche Relation einer Äußerung zu kommunizieren.
Zum einen sind hierbei, wie beschrieben, die Zeitformen von Verben, welche Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausdrücken, meist von der Position der Äußerung aus, relevant. Zum anderen existieren in der Sprache zudem zeitliche Indizes oder aber auch Phrasen wie jetzt, bald, zuvor, als Nächstes, im Anschluss oder soeben, welche allesamt Aussagen zeitlich verorten. (Craig, 2000, p. 3) So ist es allerdings auch vonnöten, dass man den Kontext einer solchen Aussage kennen muss, um deren Präposition auch zu verstehen, da die Bedeutung des Index davon abhängig ist. In den meisten Situationen bedarf dies keiner großen Anstrengung, da Aussagen in Relation zur Gegenwart geäußert werden, allerdings wird dies umso schwieriger, wenn man keinen klaren oder direkten Bezug zu dem zeitlichen Kontext besitzt.
Für jemanden wie Billy Pilgrim, sind solche Aussagen höchst problematisch, da ihm aufgrund der Art und Weise wie er Zeit erlebt oftmals der nötige Kontext einer Situation fehlt. Dieser Kontext geht implizit von einer Intersubjektivität der Perspektive aus, also dass alle Anwesenden den gegenwärtigen Moment teilen, und eine Idee davon haben welcher Moment zuvor stattfand und welcher möglicherweise folgen wird. So ist die Perspektive der Abhängigkeit der Gegenwart nicht nur für unser persönliches Verständnis relevant, sondern auch für die Sinnstiftung des sozialen Miteinanders, da alle Handlungen und Ereignisse im Medium der Zeit zu verorten sind.
Slaughterhouse-Five
„Billy is spastic in time, has no control over where he is going next, and the trips aren’t necessarily fun” (Vonnegut, 1969, p. 23)
Slaughterhouse-Five ist ein semi-autobiografisches Buch über den Horror des Zweiten Weltkriegs, es ist auch ein humorvolles Science-Fiction-Werk mit Zeitreisen und Aliens. Geschrieben von Kurt Vonnegut und erstmals erschienen im Jahr 1969, erzählt es zunächst von Vonneguts gescheitertem Versuch ein Buch über seine Erfahrungen, während es Zweiten Weltkriegs, zu schreiben, bevor er mit den oben zitierten Worten das eigentliche Buch einführt.
Wie in der Einleitung bereits beschrieben, ist der Aspekt des Buchs, welcher für diese Arbeit relevant ist, dass es von einem Mann, Billy Pilgrim, handelt, welcher Zeit nicht linear wahrnimmt, sondern stetig und unfreiwillig von Moment zu Moment springt. Und so wie sein Leben ist auch das Buch in einer achronologischen Weise erzählt. In der Geschichte wurde Billy Pilgrim von der Zeit losgelöst, nachdem er von Aliens entführt wurde, welche in allen vier Dimensionen sehen können. Diese Aliens nehmen somit nicht nur einen singulären Punkt der Gegenwart wahr, sondern können sehen, wie sich die Zeit von einem Punkt zum anderen streckt, ähnlich wie wir die drei Raumdimensionen wahrnehmen können. So sehen sie Menschen beispielsweise nicht als Zweibeiner, sondern als Tausendfüßler (Vergleiche Raum Zeit Wurm (Williams, 1968)), mit Babybeinen an einem Ende und den Beinen alter Leute am anderen. (Vonnegut, 1969, p. 87) Die Gegenwart hat in diesem Werk also nur aufgrund der eingeschränkten Wahrnehmung von Menschen eine privilegierte Position für diese, während die Aliens die tatsächliche gegenwartslose Realität wahrnehmen können, in der alle Ereignisse festgelegt sind, die der „Vergangenheit“, sowie die der „Zukunft“ aus jeweils menschlicher Sicht.
Zeitlose Aussagen
Allerdings ist es natürlich auch möglich, Aussagen zu treffen, welche nicht vom Kontext der Gegenwart abhängig sind. Ein solcher Satz wäre beispielsweise folgender: „Am 02.07.22 helfe ich meinen Eltern dabei ein Gartenhaus aufzubauen“ Wobei ich zwar notwendigerweise die Gegenwartsform des Verbs verwenden muss, dies aber in einer zeitlosen Art und Weise geschieht. Dies sorgt dafür, dass dieser Satz heute, sowie morgen, dieselbe Aussage, Prämisse und auch Gültigkeit besitzt. Für jemanden ohne konkreten Gegenwartsbezug, wie Billy Pilgrim, wären zeitlose Aussagen sicherlich von Vorteil, da man so Ereignisse in einen unabhängigen Zeitstrahl einordnen können würde und nicht durch die stetige Veränderung einer subjektiven Perspektive eingeschränkt wäre.
Ähnlich wie eine B-theoretische Sicht auf die Natur der Zeit für uns unintuitiv wirkt, ist dem auch so der Fall mit einer Sprache ohne Gegenwartsbezug. Anstatt jetzt zu sagen, müsste ich stattdessen das Datum und die Uhrzeit des Moments der Äußerung sagen, da ich nur so eine Aussage tätigen kann, welche nicht vom Referenzpunkt der Gegenwart abhängig ist, sondern zu jedem anderen Zeitpunkt dieselbe Gültigkeit besitzt. Dies ist insofern ein Problem, als ich als Mensch durch meine Wahrnehmung ein intuitives Verständnis von jetzt besitze, mir aber nicht permanent darüber im Klaren bin, was die genaue momentane Uhrzeit ist. Sodass die B-theoretische Perspektive und somit auch Sprache intuitiv Sinn für eine Person macht, müsste diese eine andere Wahrnehmung der Zeit besitzen, was ich in diesem Essay nicht nur auf einer Ebene des Inhalts dieses Essays, sondern auch jener der Wahrnehmung, also wie es erfahren wird, versuche zu vermitteln.
Billy Pilgrims Perspektive
Slaughterhouse-Five bietet mir somit eine gute Hilfestellung und auch Inspiration für dieses Gedankenexperiment. Wie bereits besprochen, fällt es uns schwer uns etwas vorzustellen, was jenseits unserer Erfahrung liegt. Ähnlich ist es auch mit der Natur der Zeit, welche in diesem Buch behandelt wird. Als Leser:innen wird uns zwar beschrieben, wie die Aliens Zeit wahrnehmen, jedoch ist unsere Perspektive stets die von Billy Pilgrim, welche trotz Allem an eine subjektive Gegenwart gebunden ist. Allerdings hat eben diese Perspektive bereits metaphysische Implikationen. Wie bereits erläutert, postuliert die A-Theorie, dass unsere Wahrnehmung der Zeit mit ihrer tatsächlichen Natur übereinstimmt. Diese Ansicht setzt allerdings notwendigerweise voraus, dass die Wahrnehmung der Zeit eines jeden Menschen identisch ist, da das Argument, dass Zeit unserer Wahrnehmung entspricht, nur Sinn macht, wenn die Wahrnehmung eines Jeden gleich ist. Billy Pilgrim erfährt Zeit jedoch anders als seine Mitmenschen, er sieht, dass es keine singuläre oder objektive Gegenwart gibt. Da er die Reihenfolge der Ereignisse anders erlebt, als sie tatsächlich ablaufen, muss vorausgesetzt werden, dass diese Ereignisse metaphysische existieren und es nicht der Fall ist, dass Ereignisse nur in einer objektiven Gegenwart vorzufinden sind. Somit muss das Universum von Slaughterhouse-Five, allein aufgrund von Billy Pilgrims Perspektive, zwangsläufig ein eternalistisches sein, was in der Natur der Aliens im Buch noch explizit bestätigt wird.
Die A-Theorie McTaggarts
Man kann nicht über die Metaphysik der Zeit sprechen, ohne über McTaggarts fundamentalen Text The Unreality of Time (McTaggart, 1908) zu sprechen oder zumindest dessen Schriften implizit vorauszusetzen. McTaggart lieferte der Metaphysik der Zeit einige fundamentale Konzepte, nämlich die der A-Theorie und der B-Theorie, welche ich hier und im folgenden Kapitel kurz beschreiben werde. Die A-Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie der Gegenwart eine privilegierte Position erteilt. Die Gegenwart sei laut ihr also etwas von metaphysischer Relevanz. Demzufolge ist der wandelnde Punkt der Gegenwart sozusagen das Zentrum der A-theoretischen Weltanschauung und fungiert als die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Die A-Theorie behauptet somit, dass die menschliche Wahrnehmung, in Bezug auf Zeit, metaphysisch korrekt ist.
So kommt es auch, dass sich A-theoretische Aussagen, also solche mit Gegenwartsbezug, für uns natürlich anfühlen. Wenn ich mit jemandem spreche und mich auf das jetzt beziehe, dann ist das jetzt gemeint, also der unmittelbare Zeitpunkt der gegenwärtigen Wahrnehmung. Ebenso sind Aussagen über Zukunft und Vergangenheit leicht verständlich, da wir denselben Referenzpunkt zu diesen Zeitpunkten haben. Diese Selbstverständlichkeit des Referenzpunktes macht A-theoretische Aussagen allerdings auch abhängig von diesem. Morgen kann ich den Satz „heute habe ich meinen Eltern dabei geholfen ein Gartenhaus aufzubauen“ nicht eins zu eins wiederholen, sondern ich muss ihn anpassen, also beispielsweise die Zeitform des Verbs verändern, um dieselbe Proposition zu äußern, ein Phänomen, auf das ich in einem späteren Kapitel noch genauer eingehen werde. Aufgrund der Abhängigkeit zum Referenzpunkt, hat derselbe Satz also unterschiedliche Bedeutungen, wenn er an einen anderen Referenzpunkt gekoppelt ist. Für jemanden wie Billy Pilgrim, oder dich, als Leser:in dieses Textes, deren Referenzpunkte sich stetig wandeln und nicht konstant mit allen anderen voranschreiten, sind solche Sätze schwer zu verstehen. Somit ist eure Gegenwart unberechenbar und die Konzepte von Zukunft und Vergangenheit scheinen bedeutungslos.
Einführende Worte
Zeit, oder vielmehr wie wir diese wahrnehmen, ist ein fundamentaler Aspekt des menschlichen Alltags, sowohl auf einer individuellen als auch sozialen Ebene. Der kontinuierliche Fluss von Zeit ist für uns ebenso selbstverständlich, wie die Kodifizierung von Zeit in Minuten oder Wochen. Aufgrund dieser Selbstverständlichkeit wird Zeit als Konzept im Alltag selten problematisiert oder hinterfragt, jedoch ist die Frage nach dem Wesen der Zeit in der Philosophie eine heiß debattierte. Eine der fundamentalen Fragen, welche hierbei aufgeworfen werden, ist, ob denn unsere Wahrnehmung von Zeit der metaphysischen Beschaffenheit von Zeit entspricht, oder ob die tatsächliche Natur der Zeit sich von unserer unmittelbaren Wahrnehmung unterscheidet. Dies geht Hand in Hand mit der Frage nach der metaphysischen Relevanz der Gegenwart, also ob diese nun tatsächlich existiert, oder ob diese nur ein Produkt unserer Wahrnehmung ist.
Unser Zugang zum Thema Zeit ist natürlich durch die Perspektive unserer Wahrnehmung voreingenommen und es fällt uns schwer uns ein Bild von Zeit vorzustellen, welches von dieser Perspektive abweicht. Unsere Vorstellungskraft ist durch unsere Wahrnehmung beschränkt. So möchte ich in diesem Essay etwas mit der Wahrnehmung von Zeit, insbesondere in Bezug zur subjektiven Gegenwart, spielen und dich, als Leser:in etwas aus der bequemen Selbstverständlichkeit locken. Stell dir vor du bist losgelöst von der Zeit, du erlebst die Kontinuität der Gegenwart nicht wie deine Mitmenschen, sondern springst beim Lesen dieses Textes ungewollt von Kapitel zu Kapitel umher. Ähnlich geht es auch Billy Pilgrim, dem Protagonisten des Buchs Slaughterhouse-Five, auf welches ich mich in diesem Essay genauer beziehen werde. Zugegebenermaßen wird dies zunächst etwas verwirrend sein zu lesen, was allerdings noch einmal die Perspektivgebundenheit unserer Zeitwahrnehmung unterstreicht. So möchte ich mit diesem Essay zwar einerseits versuchen eine andere Zeitperspektive zu illustrieren und somit ein Zeitverständnis, welches nicht an eine objektive Gegenwart, oder Gegenwart im Allgemeinen, gebunden ist, zu fassen zu bekommen, aber andererseits auch, über die pure Wahrnehmung hinaus, die metaphysischen Aspekte, welche dieses Gedankenexperiment impliziert, untersuchen.
Im Folgenden werde ich zunächst die Grundlagen der Philosophie der Zeit erläutern und im Anschluss daran das Buch Slaughterhouse-Five vorstellen. Zudem werde ich anhand von Sprache unsere Wahrnehmung von Zeit untersuchen. Einen Fokus auf Sprache lege ich, zum einen, da du als Leser:in mit dem Medium der Sprache, insbesondere des geschriebenen Wortes, mit diesem Essay in Kontakt trittst und zum anderen, da Sprache zugleich eine Interpretation der vermeintlichen Realität ist, aber auch seine eigene Realität konstruiert, welche es zu untersuchen gilt. Die vermeintlich objektive Realität der Zeit wird, gefiltert durch unser Bewusstsein und unsere Sinne, versucht in Worte zu fassen, welche wiederum unser Verständnis von Zeit mit konstruieren. Hierbei werde ich mich auf Philosophen beziehen, welche sich intensiv mit dem Verhältnis von Sprache und Zeit befassten.
Die Perspektive der B-Theorie
Im Gegensatz zur A-Theorie, postuliert die B-Theorie, dass die Gegenwart keine metaphysische Signifikanz besitzt, sondern, dass diese lediglich eine Erscheinung unserer Wahrnehmung ist. Dementsprechend unterteilt die B-Theorie die Zeit nicht in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit, sondern lediglich in früher oder später. Auf dem Zeitstrahl, welcher alle Ereignisse in chronologischer Reihenfolge auflistet, findet somit ein Ereignis immer früher oder später statt als ein anderes Ereignis. Um dies mit der Analogie des geschriebenen Wortes auszudrücken, lässt sich sagen, dass Seite 15 in einem Buch immer früher existiert als Seite 23, egal ob ich diese schon gelesen habe oder noch lesen werde. Die B-theoretische Sicht ist somit distanzierter, nicht an unsere unmittelbare Wahrnehmung gebunden, sondern nimmt Zeit holistisch wahr. Hierbei werden alle Ereignisse der Zeit gleichzeitig betrachtet, sie existieren lediglich an einem anderen Zeitpunkt, ähnlich wie ein Gegenstand noch immer existiert, auch wenn er an einem räumlichen Ort außerhalb meiner Wahrnehmung aufzufinden ist. Der letzte Punkt, dass alle Ereignisse existieren, obwohl sie an anderen Zeitpunkten aufzufinden sind, wird in der Zeitphilosophie als Eternalismus bezeichnet, sein Gegenstück ist der Präsentismus, welcher besagt, dass nur gegenwärtige Ereignisse tatsächlich existieren. Diese Perspektive ist somit eine unintuitive für uns Menschen, da sie unserer unmittelbaren widerspricht und sich auch gänzlich außerhalb dieser befindet. Was allerdings nicht bedeutet, dass sie demzufolge falsch sein muss, lediglich, dass wir mit unserer Wahrnehmung keinen Zugang zur metaphysischen Natur der Zeit erlangen können.
Zeit und das geschriebene Wort
Nachdem ich nun die Grundlagen der Metaphysik der Zeit und das zeitliche Verhältnis zur Sprache dargelegt habe, möchte ich mich nun dem finalen inhaltlichen Punkt dieses Essays widmen, nämlich der Besonderheit des geschriebenen Worts in Relation zu Zeit. Dies ist allerdings nicht nur die rein inhaltliche Konklusion, sondern auch die Rechtfertigung für den strukturellen Aufbau des Essays. Das geschriebene Wort ist meines Erachtens interessant zu betrachten, da man sowohl eine zeitabhängige oder zeitunabhängige Position einnehmen kann. Nehmen wir als Beispiel folgende Aussage: „Der Charakter Leto stirbt in dem Buch Dune“. Dies ist ein komplett zeitunabhängiges Statement. Nun kann ich aber jemanden, der das Dune gerade liest, fragen, ob Leto für diese Person bereits gestorben ist, ob der Tod dieses Charakters also in der Zukunft oder Vergangenheit liegt. So sind Ereignisse in einem Buch zwar an sich zeitloser Natur, es gibt keine metaphysische Gegenwart in dem Buch, keine singuläre Seite ist die objektive Gegenwart des Geschehens, sie werden aber durch den Akt des Lesens in einen zeitlichen Kontext gerückt.
Zudem herrscht auch eine zeitliche Diskrepanz zwischen der Äußerung einer Aussage und der Aufnahme der solchen, was bei dem gesprochenen Wort, außer bei Tonaufzeichnungen, nicht der Fall ist. Hierbei frage ich mich, worauf genau der Index jetzt in einem geschriebenen Kontext verweist. Im Sinne von „jetzt werde ich über das Wort jetzt sprechen“. Ist hierbei mein jetzt gemeint, während ich es schreibe, oder ist es dein jetzt, während du es liest? Oder ist es in diesem Kontext gar keine zeitliche Verortung, sondern eine räumliche, wobei das jetzt auf die lokale Passage dieses Textes verweist, wobei es bedeutungsmäßig mit dem Wort hier gleichzusetzen ist? Ist somit beim geschriebenen Wort die zeitliche Dimension mit den räumlichen zu vergleichen? Wobei der Akt des Lesens lediglich die Illusion einer Gegenwart hervorruft, da man aufgrund unserer eingeschränkten Wahrnehmung den kompletten Text nicht simultan absorbieren kann.
Hier spielt, wie bei Billy Pilgrim, die eingeschränkte menschliche Perspektive eine große Rolle, während die Aliens in Slaughterhouse-Five alles zeitlich verortete simultan wahrnehmen können, sind wir an die Perspektive der Gegenwart gebunden und somit auch dem Fortschreiten der Zeit, letzteres zumindest auf der Ebene der Wahrnehmung. Somit ist für unser menschliches Verständnis von Zeit, spezifisch von erlebter Zeit, das Konzept der Veränderung essenziell (McTaggart, 1908). Ähnlich wie Billy Pilgrim nicht an die chronologische Reihenfolge von Ereignissen gebunden ist, sind wir beim Lesen eines Textes nicht strikt an die Reihenfolge der Kapitel gebunden. Wir können umherspringen und uns von der Chronologie lösen, aber wir sind unweigerlich an die Jetzt-Perspektive gebunden. Somit kann zwar ein Verständnis der Zeit ohne Gegenwart, wie ins Slaughterhouse-Five oder wie es die B-Theorie postuliert, erläutert werden, aber sie kann für uns nicht greifbar gemacht werden, da sie jenseits unseres Horizonts verweilt.
Literaturverzeichnis
Craig, W. L. (2000). The Tensed Theory of Time - A Critical Examination. Kluwer Academic.
Gale, R. M. (1962, Januar). Tensed Statements. The Philosophical Quarterly, Vol. 12, No. 46, pp. 53-59.
McTaggart, J. (1908). The Unreality of Time. Mind, Vol. 17, No. 68, pp. 457-474.
Vonnegut, K. (1969). Slaughterhouse-Five. Dell Publishing: New York.
Williams, D. C. (1968). The Myth of Passage. In R. M. Gale, The Philosophy of Time (pp. 99-116).
Danke fürs Lesen! Bleib’ hübsch <3