Walton, Wrestling, Entertainment — Make-Believe & Kayfabe — ein Gastessay
Kurzfassung: Heute der zweite — etwas längere wiewohl faszinierende — Gastessay, den ein guter Studienfreund mir unlängst erlaubt hat hier zu veröffentlichen. Und wieder wird man auf eine “Reise mit soziologischem Blick” mitgenommen, die das aufrechterhaltene Schauspiel genauer unter die Lupe nimmt.
Heute folgt das zweite mir zugesendete Essay von Marco Bochert. Und wieder einmal teilt er seinen — wie ich finde — fantastischen Sozialen-Blick auf ein Thema, von dem ich vorher nicht wusste, dass ich es so interessant finden könnte.
[Verfasst im Sommer 2023, im Department für Sozialwissenschaften und Philosophie im Rahmen des Seminars Analytische Philosophie der Kunst für das Vertiefungsmodul Theoretische Philosophie]
Danke Marco! Viel Spaß liebe:r Leser:in.
— Johannes Wellhöfer
Einleitung
In diesem Essay soll untersucht werden, ob Kendall Waltons ästhetische Theorie des Make-Believe sich auch auf eine repräsentative Art der Kunst, welche Walton in seinen Schriften nicht analysierte, nämlich Wrestling, anwenden lässt. Hierbei soll geprüft werden, ob diese Theorie, durch ihre mögliche Eignung das Phänomen Wrestling zu beschreiben, gestärkt werden kann, hinsichtlich ihres Anspruchs repräsentative Kunst im Allgemeinen zu erläutern.
Im Laufe seiner Karriere hat sich Kendall L. Walton darauf fokussiert zu erläutern, wie Personen mit repräsentativen Kunstwerken umgehen und wie das Verhältnis von Realität zu Fiktion zu beschreiben ist. Zentral für seine Theorie ist das Phänomen des Make-Believe-Spiels, also ein Spiel des so-tun-als-ob, wenn wir mit Fiktionen interagieren, welches im Folgenden noch genauer erläutert werden soll. Hierbei wird sich dieses Essay primär auf zwei Texte Waltons beziehen. Zum einen Are Representations Symbols, in welchem Walton die grundlegenden Mechaniken und Funktionsweisen repräsentativer Kunst erläutert und zum anderen Fearing Fictions, in welchem er die Frage stellt, wie es denn möglich ist, dass eine Person behaupten kann, sie hätte sich vor einem Horrorfilm gefürchtet, also inwiefern Fiktionen vermeintlich reale emotionale Zustände hervorrufen kann. Nachdem die theoretische Grundlage Waltons erläutert wurde, soll dieses Essay untersuchen, inwiefern sie sich auf eine Kunstform anwenden lassen, welche Walton nicht analysierte, nämlich Pro-Wrestling. Hierbei wird zunächst angenommen, dass Wrestling nicht deckungsgleich mit den Kunstformen ist, auf welche sich Walton bezog, allen voran dem Film, da dies sein prominentestes Beispiel in Fearing Fictions ist. Es sollen die Unterschiede und Besonderheiten von Wrestling herausgearbeitet werden und daraufhin untersucht werden, ob Waltons Theorie des Make-Believe, durch seine Anwendbarkeit auf Wrestling bekräftigt werden kann, da sie womöglich auch auf Kunstformen angewendet werden kann, auf welche Walton keinen direkten Bezug nahm. Nebenbei soll ebenfalls, angelehnt an Fearing Fictions, die Frage beantwortet werden, warum die Fans bei einem Wrestling-Match so mitfiebern, wie bei einem tatsächlichen Sport-Event.
Waltons ästhetische Theorie und das Make-Believe-Spiel
In Fearing Fictions beschreibt Walton folgende Situation: Ein Mann namens Charles schaut sich einen Horrorfilm an, in welchem ein Schleim-Monster vorkommt. Während des Films weist er Symptome eines Angstzustandes auf, sein Herz schlägt schneller und seine Muskeln sind angespannt, zudem berichtet er nach dem Film, dass er sich gefürchtet hatte. Walton wirft nun die Frage auf, ob dies den stimmt. Hatte Charles tatsächlich Angst? Walton präzisiert diese Situation, es geht ihm hierbei nicht um eine Angst im Sinne dessen, dass der Film auf etwas Reales oder Mögliches verweist, vor dem Charles Angst haben könnte, also, dass dieser Schleim beispielsweise tatsächlich existiert und der Film Charles daran erinnert. Es geht ihm auch nicht um eine Angst vor dem Film selbst. Sollte Charles möglicherweise Herzprobleme haben und sich davor fürchten, dass der Film ihn so erschrecken könnte, dass sein Herz wortwörtlich aussetzen könnte. Walton beschreibt auch, dass Charles sich in dieser Situation klar der Trennung von Realität und Fiktion bewusst ist, er denkt also nicht, dass die Geschehnisse auf der Leinwand echt sind, dass also der Schleim tatsächlich auf ihn zukommt (Walton 1978a, S. 6). Er fragt sich also, ob man in einer solchen Situation, in derer man sich der Fiktionalität bewusst ist, tatsächlich davon reden kann, vor der Fiktion Angst zu haben. So argumentiert er, dass, wenn es sich um Angst handeln würde, man die Situation meiden würde. Er verwendet das Beispiel, dass jemand, der Angst vorm Fliegen hätte, nicht in ein Flugzeug steigen würde. Wenn Charles also tatsächlich Angst hätte, würde er aus dem Kino fliehen, allerdings bleibt er sitzen und sieht sich den Film weiter an, obwohl er sich in einem angstähnlichen Zustand befindet. Aus diesem Grund bezeichnet Walton diesen Zustand als Quasi-Angst, da er, wie beschrieben, der Angst ähnlich ist, es sich aber nicht um tatsächliche Angst halten kann (Walton 1978a, S. 6).
Um nun den Zustand von Charles zu erläutern ist, wie in der Einleitung beschrieben, das Konzept von Make-Believe zentral für Waltons ästhetische Theorie. In seinem Werk Are Representations Symbols geht Walton der titularen Frage nach, ob repräsentative Kunstwerke [Ein Beispiel für ein repräsentatives Kunstwerk wäre ein Gemälde einer berühmten Person], also diejenigen, die auf etwas außerhalb des Werkes referieren, wie Symbole fungieren. Waltons Antwort auf diese Frage erläutert allerdings nicht nur die Funktionsweise von repräsentativen Kunstwerken, sondern auch wie Personen mit Fiktionen umgehen. Walton beschreibt zwar, dass repräsentative Kunstwerke als Symbole fungieren können, aber dass dies nicht notwendigerweise so ist, sondern lediglich auf Konvention beruht. Um dies an einem Beispiel zu erläutern, beschreibt er eine mögliche Kultur, welche zwar Repräsentationen von Bisons anfertigt, aber nicht mit der Intention, dass diese Bison-Repräsentationen auch tatsächlich existierende Bisons repräsentieren. In dieser Kultur gäbe es nicht die Konvention des Repräsentierens, vielmehr wird die Anfertigung einer solchen Bison-Repräsentation als das Schaffen oder Kreieren eines Bisons betrachtet (Walton 1974, S. 237). Waltons konkludiert hierbei, dass repräsentative Kunstwerke Make-Believe Wahrheiten erzeugen, und nicht zwangsweise auf äußere Dinge referieren (Walton 1978b, S. 16). Wenn ein Kind beispielsweise mit einer Barbie-Puppe, welche eine Frau-Repräsentation ist, spielt, repräsentiert diese für das Kind keine tatsächlich existierende Frau, sondern ist im Moment des Puppenspiels eine Make-Believe Frau. Kunstwerke werden so, laut Walton, als Requisiten in einem Make-Believe-Spiel verwendet (Walton 1974, S. 252). Wenn wir also ein Gemälde betrachten, welches Napoleon darstellt, referiert dieses Gemälde nicht zwangsweise auf ihn, sondern wir tun so, als ob dieses Gemälde Napoleon ist.
Hierin liegt auch die Lösung nach der Frage des emotionalen Zustandes von Charles. Er ist ebenso in einem Make-Believe-Spiel verwickelt, in welchem er den Horrorfilm und den Schleim als Requisiten verwendet, Charles spielt hierbei sich selbst, wie er Angst hat. Er tut so, als wäre er in Gefahr, als würde der Schleim ihn bedrohen und als hätte er Angst (Walton 1978a, S. 14). Seine Quasi-Angst, welche wir in der Realität beobachten können, ist also die Angst, welche er in seinem Make-Believe-Spiel ausspielt. Walton verweist hierbei auf ein Zitat von Jorge Luise Borges, welches besagt, dass der Schauspieler so tut, als wäre er eine andere Person und ebenso tut das Publikum so, als würden sie ihn als diese wahrnehmen (Walton 1978a, S. 12). Allerdings hebt Walton einen wichtigen Unterschied zwischen Schauspielern und Zuschauern, bzw. Charles, hervor. Charles generiert Make-Believe emotionale Zustände, seine Gefühle sind hierbei das wichtige, das, was Walton als Quasi-Angst beschrieben hatte. Das Make-Believe-Spiel des Schauspielers hingegen basiert nur auf seinem Handeln, nicht auf seinen emotionalen Zuständen. Ein Schauspieler, der Angst darstellt, muss selbst keine Quasi-Angst verspüren (Walton 1978a, S. 14). Allerdings ist es wichtig zu bemerken, dass Charles nicht Teil der Welt des Films wird, aber auch nicht völlig in der Welt der Realität verweilt. Der Film generiert zum einen Make-Believe-Wahrheiten über das, was in ihm existiert, wie dem Schleim-Monster, zum anderen verwendet Charles diese in seinem eigenen Make-Believe-Spiel als Requisiten, um die Make-Believe-Wahrheiten einer sekundären Welt zu generieren, welche seine Make-Believe emotionalen Zustände beinhaltet.
Die Make-Believe-Welt des Films ist öffentlich zugänglich und soll in diesem Essay als primäre Make-Believe-Welt bezeichnet werden, die Make-Believe-Welt von Charles ist persönlich und soll als sekundäre Make-Believe-Welt bezeichnet werden (Walton 1978a, 17f). Für Walton ist es ein wichtiger Aspekt, dass wir uns in die Ebene der Fiktion ausdehnen. So lehnt er explizit das Konzept des Suspension of Disbelief, also dem Aussetzen des Unglaubens, ab, welches häufiger in Diskussionen um Fiktionen Verwendung findet. Suspension of Disbelief bedeutet, dass man nicht erkennt, dass es sich bei einem Werk um eine Fiktion handelt, wenn auch temporär, was wiederum bedeutet, dass die Fiktion in diesem Fall auf die Ebene der Realität gestellt werden wird. Walton hingegen vertritt die Position, dass wir uns auf die Ebene der Fiktion hinabbegeben, oder eben, wie erwähnt, ausdehnen, da er anmerkt, dass wir ja nicht aufhören in der tatsächlichen Welt zu existieren (Kendall L. Walton 1980, S. 15). Charles verfällt diesem Make-Believe-Spiel nicht einfach, es ist nicht lediglich ein passiver Effekt, der bei der Betrachtung von Kunst auftritt, er hat auch die Macht, sich aktiv auf dieses Spiel einzulassen. So kann er bewusst die fiktive Welt erkennen, die er und der Film teilen und auch seine Reaktionen dementsprechend gestalten. So könnte er beispielsweise beim Anblick des Schleims um Hilfe rufen, um seine Make-Believe-Angst in diesem Spiel auszuleben (Walton 1978a, S. 19). Zudem ist es wichtig, bei dem Spielen eines Spiels, sich einerseits bewusst zu sein, dass es sich um ein Spiel handelt, und zum anderen so zu tun, als wäre es kein Spiel, denn innerhalb des Spiels wird so getan, als ob es natürlich echt wäre (Kendall L. Walton 1980, S. 2). So ist man sich darüber im Klaren, dass das, was im Spiel passiert keine Konsequenzen für die Realität hat, Charles ist nicht in Gefahr von einem Monster gefressen zu werden, dennoch kann man die dazugehörigen Emotionen, wie Angst, in einem Quasi-Zustand ausleben (Walton 1992, S. 88).
Das Phänomen Wrestling
Wie beschrieben, soll in diesem Essay untersucht werden ob Waltons Theorie auf Wrestling anwendbar ist, um dies zu tun, müssen allerdings erst die Eigenheiten und Besonderheiten von Wrestling beschrieben werden. Wrestling befindet sich trotz seiner außerordentlichen Beliebtheit dennoch in einer eher isolierten Sphäre. Sportfans interessieren sich nicht sonderlich für Wrestling, da es kein richtiger Sport ist, mehr dazu im Folgendem, und auch im medienwissenschaftlichen Bereich ist Wrestling kein viel studiertes Phänomen (Jones 2019, S. 2). Wenn eine außenstehende Person irgendetwas über Wrestling weiß, dann ist es oftmals die Tatsache, dass es nicht echt ist, also dass es sich hierbei nicht um einen tatsächlichen sportlichen Wettkampf handelt, sondern um eine vorherbestimmte Performance. Wrestling kleidet sich aber dennoch in der Ästhetik eines sportlichen Wettkampfes, so kann man auch Wrestling, mit der Theorie von Walton, als eine Sport-Repräsentation bezeichnen (Jones 2019, S. 11). Nun, da Wrestling kein tatsächlicher Sport ist, zumindest im Sinne eines Wettkampfes [An sich ist Wrestling natürlich sportlich, da es körperliche Fitness verlangt, allerdings ist mit „Sport“ in diesem Kontext ein tatsächlicher Wettkampf gemeint, was beachtet werden sollte, wenn Wrestling mit Sport kontrastiert wird.], da es ja dennoch physische Fähigkeiten abverlangt, stellt sich die Frage, womit Wrestling denn zu vergleichen ist. Rein von der Narration her wird Wrestling oftmals mit einer Seifenoper verglichen, da es reich an Melodrama ist und die Geschichte offen ist und stetig weitergeführt wird (Jones 2019, S. 5). Ein anderer naheliegender Vergleich wäre das Theater aufgrund des Aufbaus: eine Bühne im Fokus, eine Live-Vorstellung und ein physisch anwesendes Publikum in einer Halle. Einen Vergleich den auch Roland Barthes in dem Kapitel The World of Wrestling aus seinem Werk Mythologies macht (Barthes 1972). Allerdings geht er noch darüber hinaus und sieht die Essenz des Wrestlings im Spektakel, ein Aspekt, auf den zum Ende des Essays noch einmal kurz eingegangen werden soll.
Wrestling-Fans werden oftmals gefragt, ob sie denn nicht wissen, dass es nicht echt ist, wenn sie sich als Wrestling-Fan zu erkennen geben, mit der impliziten Annahme, dass diese Nicht-Echtheit Wrestling als Unterhaltungsform diskreditiert (Jones 2019, 2f). Es wäre schwer vorstellbar, einem Filmfan eine ähnliche Frage zu stellen, was ein Anzeichen dafür ist, dass es einen unterschiedlichen Umgang mit Fiktion in Film und Wrestling gibt, oder zumindest, dass diese anders wahrgenommen wird. Während der Filmfan, wie etwa Charles, primär mit seinen privaten emotionalen Zuständen auf den Film reagiert, reagieren Wrestling-Fans zusätzlich auch mit ihrem Handeln. Wrestling-Fans sind in ihrem Verhalten nicht von den Zuschauern eines tatsächlichen Wettkampfes zu unterscheiden, sie jubeln, buhen und stellen generell die Ekstase, die Emile Durkheim als kollektive Efferveszenz bezeichnen würde, dar (Ôno 1996, 79f). So stellt sich nun die Frage, wie es denn sein kann, dass sich Wrestling-Fans in Verhalten und emotionalen Zuständen regulären Sportfans ähneln, angelehnt an Waltons Frage, wie man den behaupten kann vor einem Monster in einem Film Angst zu haben.
Um zunächst einen offensichtlichen Punkt aus dem Weg zu räumen: Wrestling-Fans sind sich bewusst, dass Wrestling nicht echt ist, ähnlich wie sich auch Charles bewusst ist, dass das Monster nicht echt ist. Früher wurde es zwar von Veranstaltern verschleiert und als legitimer Sport präsentiert, heute ist dies allerdings kein Geheimnis mehr. World Wrestling Entertainment, auch bekannt als WWE, der mit Abstand größte Veranstalter, bezeichnet sich selbst, und damit auch Wrestling im Allgemeinen, ganz offen als Sports Entertainment, also in Abgrenzung zu tatsächlichen sportlichen Wettkämpfen. Somit sind sich die Zuschauer bewusst, dass Wrestling lediglich die Fiktion eines sportlichen Wettkampfes darstellt [Ausnahmen mag es selbstverständlich geben]. Die Wrestling-Community verfügt zudem auch über ein sehr robustes Vokabular, um diese Fiktion zu beschreiben. Allen voran Kayfabe, welches eine zentrale Rolle im Text All Caught Up in the Kayfabe von Lisa Jones spielt, auf welchen sich dieses Essay viel beziehen wird (Jones 2019, S. 3). Kayfabe steht für die Aufrechterhaltung der Fiktion, dass Wrestling ein legitimer Wettkampf sei. Wenn Wrestler also so tun, als würden sie tatsächlich um einen Titel ringen, wahren sie Kayfabe. Im Gegensatz dazu, wenn sich beispielsweise zwei Wrestler, die in der Fiktion erbitterte Rivalen sind, nach einem Match freundschaftlich umarmen, würden sie Kayfabe brechen und auch die Fiktion zerstören. [Siehe den sogenannten Madison Square Garden Curtain Call Vorfall.]
Allerdings bewegt sich der Wrestling-interne Diskurs nicht nur in der Welt der Fiktion, sondern auch in der Meta-Ebene, der sogenannten „Backstage Politics“. Das Ergebnis eines Matches mag zwar vorherbestimmt sein, aber natürlich bestimmt dies der Veranstalter aufgrund verschiedener externer Kriterien. Die WWE wird oftmals als das Land der Riesen bezeichnet, weil ein Fokus auf körperlich eindrucksvolle Wrestler gesetzt wird. So werden kleine und schmächtige Wrestler oftmals vernachlässigt, was auch bedeutet, dass sie in der Fiktion selten große Siege erzielen. Dies macht sie in der Meta-Ebene gewissermaßen zu einem Underdog, wenn sich Fans wünschen, dass so ein Wrestler von den Veranstaltern besser behandelt wird, was ebenfalls damit einhergeht, dass dieser Wrestler auch in der Fiktion ein Underdog ist, da seine Siegeschancen meist geringer sind (Jones 2019, S. 14) [Siehe Daniel Bryan, auf den sich auch Jones in diesem Kontext bezieht.]. Hiermit zeigt sich also, dass beim Wrestling die, in anderen Medien so klare, Grenze, zwischen Fiktion und Realität, einen besonderen Charakter hat. So wird auch hin und wieder damit gespielt und es ist gelegentlich bewusst unklar, ob Aussagen oder Handlungen von Wrestlern so geplant waren, was man als „Work“ bezeichnen würde, oder ob sie off-Skript und somit echt waren, was man als „Shoot“ bezeichnen würde (Siehe die sogenannte Pipe Bomb Promo des Wrestlers CM Punk.). Was somit zeigt, dass das Wrestling, als auch seine Fans geschickt auf beiden Ebenen, also der Fiktion und der Realität, agieren können. Nun, da die Kerneigenschaften des Phänomens Wrestling dargestellt wurden, soll analysiert werden, inwiefern Wrestling, das Verhalten der Fans, den theoretischen Ansatz von Walton stützen kann.
Wie lassen sich Wrestling und Waltons ästhetische Theorie vereinen?
Nun lassen sich schon einige offensichtliche Parallelen zwischen Waltons Ansätzen und Wrestling beobachten. So ist es nicht überraschend, dass diese bereits von anderen Personen, wie Jones, analysiert wurden. Wie beschrieben legt sie einen Fokus auf Kayfabe, welches sie als das Wrestling-Äquivalent zu Waltons Konzept des Make-Believe bezeichnet (Jones 2019, 10f). In Waltons Horrorfilm-Beispiel beschrieb er, dass Personen, wenn sie repräsentative Kunst konsumieren, diese als Requisiten in einem Make-Believe-Spiel verwenden. So lässt sich dieser Ansatz auch in der Welt des Wrestlings wiederfinden, welches, wie erwähnt, eine Sport-Repräsentation ist. Dies unterscheidet sich zwar in einigen Faktoren, welche folglich erläutert werden sollen, allerdings ist der zentrale Mechanismus der gleiche. Während die sekundäre Make-Believe-Welt, die ein Zuschauer eines Films mit diesem kreiert, eine private, ist, ist sie beim Wrestling involvierter und kollaborativer. Zum einen sind die Wrestler selbst, dadurch, dass sie eine Sportler-Repräsentation darstellen, daran beteiligt, die primäre Make-Believe-Welt zu konstruieren, aber auch die Zuschauer als Kollektiv. Das Publikum gehört zu jedem legitimen Sportereignis, ein Fußballspiel ohne jubelnde Fans ist kaum vorzustellen. So müssen auch die Fans bei einem Wrestling-Match diese Rolle erfüllen, um die Fiktion eines sportlichen Wettkampfes zu kreieren. Die Fans sind somit ebenso an der Aufrechterhaltung von Kayfabe beteiligt wie die Wrestler, oder auch die Kommentatoren, welche das Match aus der Fiktion heraus kommentieren.
Die primäre Make-Believe-Welt des Films existiert auch ohne einen Betrachter, beim Wrestling allerdings ist das Publikum essenziell für die Kreierung dieser und Wrestling würde ohne ein Publikum keinen Sinn ergeben (Webley 1986, 59f). Hierbei besteht die Möglichkeit, dass die primären und sekundären Make-Believe-Welten bei Wrestling anders als beim Film interagieren. Während beim Film der Film selbst die primäre Make-Believe-Welt bereit stellt, mit welcher dann ein Zuschauer eine sekundäre Make-Believe-Welt kreiert, ist es beim Wrestling so, dass die Kreation der primären Make-Believe-Welt auch davon abhängig ist, dass es eine sekundäre Make-Believe-Welt gibt, da das Verhalten der Zuschauer, welches sich aus der sekundären Make-Believe-Welt ergibt, essenziell für die Erschaffung der primären Make-Believe-Welt ist. So scheinen die beiden Welten beim Film in einem einseitig-linearen Verhältnis zu stehen, beim Wrestling jedoch in einem wechselseitigen. Trotz dieser unterschiedlichen Verhältnisse zeigt sich die Grundlegende Idee Waltons, zwischen zwei unterschiedlichen Make-Believe-Welten zu unterscheiden, ebenfalls dafür geeignet, um Wrestling zu verstehen.
Es wurde zuvor auf ein Zitat von Borges verwiesen, welches besagte, dass auch das Publikum bei einem Theaterstück eine Rolle zu spielen hat, nämlich die Schauspieler als das zu sehen, was sie vorgeben zu sein. Dies beschreibt, ähnlich wie Waltons Horrorfilm-Beispiel, ein passives und privates Phänomen, welches sich im Wrestling in einer aktiveren und kollaborativeren Version wiederfinden lässt. So haben auch Wrestling-Fans eine Rolle zu spielen, nämlich die eines Sport-Publikums. Während Charles in einem Make-Believe-Spiel sich selbst spielt, wie er Angst vor einem Schleim hat, spielt das Publikum eines Wrestling-Matches sich selbst, auf eine kollektive Weise, wie sie bei einem legitimen Sport mitfiebern. Da das Publikum kollektiv gesehen eine essenzielle Rolle für die Konstruktion der Fiktion spielt, sowohl für deren einzelnen Mitglieder als auch die Wrestler und zudem diejenigen, die von zuhause aus zusehen, befindet sich das Publikum ebenfalls auf der Bühne. Die Bühne eines Wrestling-Matches beschränkt sich somit nicht auf den Ring, in welchem der Kampf ausgespielt wird, sondern inkludiert das gesamte Stadion [Und womöglich auch Aspekte wie Online-Diskussionen oder Unterhaltungen, sofern sie aus der Position der Fiktion aus geäußert sind, da sie ebenfalls daran beteiligt sind die Fiktion aufrechtzuerhalten]. Da sich das Publikum ebenfalls auf der Bühne befindet, kann es sogar in kleinerem Maße in die Fiktion eingreifen, wenn beispielsweise ein Zuschauer einen Wrestler verspottet und dieser darauf reagiert und ihn zurück beleidigt. Jones vergleicht dies mit einer moderneren Form des Theaters, nämlich dem sogenannten No-Wall-Theater, wonach ihr zufolge die Make-Believe-Welt nicht nur in den Köpfen des Publikums existieren soll, sondern um jeden herum (Jones 2019, S. 13).
Auch lässt Waltons Kritik an dem Konzept Suspension of Disbelief wiedererkennen. Als kurze Rekapitulation, er beschrieb, dass Personen nicht die Fiktion für echt halten, sondern dass sie sie sich selbst auf das Level der Fiktion begeben und dabei dennoch Teil der Ebene der Realität bleiben. Die Art und Weise, wie Wrestling-Fans ein Match sowohl innerhalb der Fiktion und auch aus der Meta-Ebene heraus betrachten können (Jones 2019, 14f), bekräftigt Waltons Punkt. Wrestling-Fans tauchen in eine fiktive Welt ein und werden ein Teil von ihr, aber bleiben dennoch in der Realität verankert. Aber nicht nur in Bezug auf ihre Wahrnehmung des Geschehens sind Teil beider Welten, auch durch ihre Anwesenheit, da sie zum einen reguläre Zuschauer sind, die sich ein Stück Unterhaltung ansehen, aber auch Darsteller, die in der Fiktion die Rolle eines Sportpublikums erfüllt. So dehnen sie sich also, in den Worten Waltons, von der Realität in die Fiktion aus. So zeigt dies, dass die Wrestling-Fans dem Suspension of Disbelief nicht verfallen, da sie Geschehenes stets aus der Perspektive der Fiktion als auch der Realität betrachten können und nicht etwa glauben, dass es echt sei.
So zeigt sich, dass Waltons ästhetische Theorie auch auf Wrestling anwendbar ist, obwohl es sich als Kunstform in den beschriebenen Aspekten von denen unterscheidet, welche Walton als Beispiel verwendet hatte, was wiederum ein Zeichen dafür ist, dass Waltons Konzept des Make-Believe eine geeignete Erklärung für unseren Umgang mit repräsentativen Kunstwerken ist. Besonders hervorzuheben ist die Tatsache, dass es im Wrestling eine gewisse Fachterminologie gibt, welche Phänomene auf eine ähnliche Art und Weise behandelt und beschreibt, wie es Walton auch tut. Allen voran die bemerkenswerte Ähnlichkeit von Make-Believe und Kayfabe, welche Jones in ihrem Werk als deckungsgleich behandelte (Jones 2019, S. 11). So scheint es, als wäre der theoretische Rahmen Waltons, was Wrestling betrifft, bereits implizit vorhanden und ließe sich sozusagen in der Welt wiederfinden. Auch andere Ansätze, Wrestling zu analysieren, weisen stellenweise Ähnlichkeiten mit Waltons Theorie auf. Wie beschrieben, bezeichnet Barthes Wrestling primär als Spektakel und fügt dabei hinzu, dass Wrestling weder Symbol noch Anspielung ist, also auf nichts referiert, sondern eine Form der Realität präsentiert (Barthes 1972, S. 25). Dies gleicht der Konklusion vor Waltons Text Are Representations Symbols, nämlich dass es nicht zwingen für repräsentative Kunst ist, auf etwas zu referieren, sondern dass sie vielmehr etwas kreieren, also eine Make-Believe-Realität schaffen, wie an dem Bison-Beispiel veranschaulicht wurde. Die zuvor gestellte Frage, wie es denn sein kann, dass Wrestling-Fans bei einem Match augenscheinlich so mitfiebern wie reguläre Sportfans lässt sich also auf dieselbe Art beantworten, wie die Frage, wie jemand denn behaupten kann vor einem Horrorfilm Angst zu haben: Nämlich, dass das Kunstwerk als Requisite in einem Make-Believe-Spiel verwendet wird. Die Ähnlichkeiten zwischen Wrestling und den von Walton analysierten Kunstformen stützten die Theorie Waltons, während die beschriebenen Unterschiede sie nicht widerlegten, da sie sich trotz abweichender Umstände dennoch dazu eignet, das Phänomen Wrestling adäquat zu analysieren. Was womöglich bedeuten könnte, dass Waltons Theorie auch einen universalen Anspruch hat, repräsentative Kunst zu beschreiben, wobei dies jenseits des Rahmens dieses Essays liegt, und in den jeweiligen Einzelfällen analysiert werden müsste.
Literaturverzeichnis
Barthes, Roland (1972): Mythologies. New York: The Noonday Press.
Jones, Lisa (2019): All Caught Up in the Kayfabe. Understanding and Appreciating Pro-Wrestling. In: Journal of the Philosophy of Sport 46 (2), S. 1–19. DOI: 10.1080/00948705.2019.1613410.
Kendall L. Walton (1980): Appreciating Fiction. Suspending Disbelief or Pretending Belief. In: Dispositio 5 (13/14), S. 1–18. Online verfügbar unter http://www.jstor.org/stable/41491185, zuletzt geprüft am 31.08.23.
Ôno, Michikuni (1996): Collective Effervescence and Symbolism. In: Durkheimian Studies / Études Durkheimiennes 2, S. 79–98. Online verfügbar unter http://www.jstor.org/stable/44709225, zuletzt geprüft am 31.08.23.
Walton, Kendall L. (1974): Are Representations Symbols? In: The Monist 58 (2), S. 236–254. Online verfügbar unter http://www.jstor.com/stable/27902359, zuletzt geprüft am 31.08.23.
Walton, Kendall L. (1978a): Fearing Fictions. In: Journal of Philosophy 75 (1), S. 5–27. Online verfügbar unter https://www.jstor.org/stable/2025831, zuletzt geprüft am 31.08.23.
Walton, Kendall L. (1978b): How Remote Are Fictional Worlds from the Real World? In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 37 (1), S. 11–23. Online verfügbar unter https://www.jstor.org/stable/430872, zuletzt geprüft am 31.08.23.
Walton, Kendall L. (1992): Make-Believe and Its Role in Pictorial Representation and the Acquisition of Knowledge. Online verfügbar unter http://hdl.handle.net/20.500.12648/3412, zuletzt geprüft am 31.08.23.
Webley, Irene A. (1986): Professional Wrestling: The World of Roland Barthes Revisited 58 (1-2), S. 59–82. DOI: 10.1515/semi.1986.58.1-2.59.
Danke fürs Lesen! Bleib’ hübsch <3