Was Eltern Zu Spät Sehen: Veränderungsblindheit
Kurzfassung: Unsere Eltern kennen unser junges Selbst gut. So gut, dass sie unser älteres Selbst zu spät kennenlernen. Aber nicht nur unseren Eltern geht es so. Und warum eigentlich? Darum gehts in diesem Beitrag.
In meinem Deutsch Abitur hatte ich 2013 schon -- klar soziologisch frühbegabt — bei der Gedichtsanalyse von Eichendorff’s “Der Unbekannte” (Klett Musterlösung siehe hier) folgende meisterhafte Gedanken zu Papier gebracht: Fremde Menschen kennenzulernen und sich von ihnen kennenlernen zu lassen, erlaubt uns entweder uns neu zu erfinden, oder uns so sehen zu lassen, wie wir gerade wirklich sind.
Ich habe nach der Abgabe das Gedicht nicht mehr gelesen, und lese ich es nun, waren die benoteten 9 Punkte wohl sogar ein Zeichen guter Argumentationsführung, denn so nahe wie ich damals dachte liegt der Gedanke im Gedicht nun selbst nicht. Womöglich entsprang der Gedanke mehr aus mir, als aus dem Gedicht. Als junger Erwachsener verändert man sich viel. Und viel von dem, was man gerne wäre, wie man sich gerade fühlt, oder was man ausprobieren möchte, wird konkret oder empfunden unterdrückt.
Ein Grund für die aktive Unterdrückung ist die aktive Nötigung der Umwelt sich nach Erwartungen anderen zu verhalten. Ein Grund für die passive Unterdrückung ist die passive Nötigung der Umwelt sich nach Erwartungen anderer zu verhalten. Die aktiven Einflüsse aus Umwelterwartungen sind viel diskutiert, die Passiven weniger. Daher geht es heute hier darum.
Ich hänge den Titel des Beitrages etwas dramatisch an den Eltern auf, da wir die Dynamik selbst als Kinder erleben oder erlebt haben. Und weil wir die Dynamik als Eltern (so wir sie sind) selbst erleben oder erleben werden. Aber den zugrundeliegenden Prozess erleben wir in allen Beziehungen zu Menschen, welche uns häufig begegnen.
Wenn Menschen sich kennenlernen verbringen sie die ersten Interaktionen damit, sich gegenseitig genauer zu beobachten und zu lernen die jeweils andere gut einzuschätzen. Intuitiv stellen wir Theorien auf, wie die andere Person sich wohl verhält, oft angelehnt an ähnlichen Archetypen die wir kennen (Unverfängliches Beispiel: Johannes mag Tischtennis). Bestätigen sich unsere Theorien häufig, sind wir zufrieden und speichern den anderen Menschen als eine Abstraktion dieser Theorien ab (#Tischtennisjohannes). Je mehr wir diese Abstraktion anwenden desto mehr verlassen wir uns darauf, dass die andere Person so ist.
Wir basieren unsere Vorstellung von Interaktionen mit der Person auf diese Abstraktion (Wenn ich mit Johannes Zeit verbringen will, lade ich ihn zum Tischtennisspielen ein). Unsere Interaktionen mit der Person beziehen sich auf diese Vorstellungen (“Hallo Johannes, na wie hat das Deutsche Tischtennisteam gespielt?”). Wir formen die Interaktion mit der anderen Person im Lichte unserer gefestigten Theorien über sie. Wir erschaffen so auf eine Art und Weise Szenarien, in denen die andere Person genötigt wird unserer Vorstellung über sie zu entsprechen. Je rigider unsere Abstraktion (#TischtennisjohannesSonstNichts) ist und je abhängiger die Interkation von dieser Deutung ist (Wenn Johannes sich anders verhält fühle ich mich entfremdet) desto stärker arbeiten wir, aktiv und passiv, darauf hin, dass die andere Person sich gemäß unserer Erwartungen verhält.
Wir sehen unsere hoch-frequenten Kontakte nicht als die, die sie gerade sind, sondern als unsere historisch bewährte Theorie über sie. Dadurch tun sich vertraute Menschen oft unrecht in der Wahrnehmung und Anerkennung persönlicher Entwicklungen. In beide Richtungen, Fortschritte und Erkenntnisgewinn werden dadurch genau so ignoriert wie Verfall.
Ich würde sagen, dass wir uns nie ganz dagegen wehren können. Es ist einfach zu anstrengend immer wieder offen dafür zu sein, wer eine vertraute Person gerade jetzt ist. Es würde uns wohl auch oft als unaufmerksam oder “übertrieben sozialphilosophierend” erscheinen lassen, wenn wir stehts so täten, als träfen wir unsere guten Freunde zum ersten Mal. Es ist schlicht eine Natur des Sozialen, dass wir unser Gegenüber abstrahieren.
Um aber zu verhindern, dass ein zu spätes Erkennen davon, wer unsere Vertrauen gerade wirklich sind, uns wichtige Beziehungen zu kostet habt ihr mit dem Lesen diesen Artikels schon den ersten Schritt gemacht. Ein Thema vieler Essays auf diesem Blog ist die Macht des Bewusstmachens und Reflektierens.
Ich möchte, dass du dich folgendes fragst:
Welchen Beziehungen halten mich dadurch zurück, dass meine Veränderung nicht anerkannt wird? Und wie kann ich das ändern?
Welche Beziehungen halte ich dadurch zurück, dass ich nicht anerkennen will, dass sich die andere Person geändert hat? Und wie kann ich dem Anderen dort gerecht werden?
Gibt es Entwicklungen, welche ich erst dann vollziehen kann, wenn ich meinen Kontext wechsle? Hin zu einem Kontext in dem ich der Unbekannte bin, der neu entdeckt werden muss. Der dann als der entdeckt werden kann, der ich bin; oder sein will.
Danke fürs Lesen! Bleib’ hübsch <3