Die Wehrpflicht in der Schweiz — Ein Gastessay

Kurzfassung: Ein Erlebnisauszug aus der Rekrutenschule (RS) der Schweizer Armee, geschrieben von einer schweizer Freundin. Ein Impulsessay mit wichtigen Gedankenanstößen zum militärischen Grüßen von Hügeln, Pflicht und Entscheidungsfreiheit.

Quelle: suedostschweiz.ch

Simona ist eine unglaublich seltene wie faszinierende Mischung Mensch. Ursprünglich aus der (schweizer-)deutschsprachigen Zentralschweiz arbeitete sie nach ihrer Ausbildung und als Bankkrauffrau, wechselte später zu einer Entwicklungshilfe-NGO und startete nach einiger Zeit ein Teilzeitstudium in Philosophie in der französisch-sprechenden Schweiz. Nach einem Auslandsstudium in Italien, pausiert sie derzeit ihr Studium und ihre Arbeit um freiwillig die — für schweizer Frauen nicht verpflichtende — militärische Grundausbildung zu absolvieren.

Heute haben wir die Freude von ihr einen Gastbeitrag im Lichte dieser Erfahrung aus ihrem besonderen Blickwinkel zu erhalten. Ich bin optimistisch, es wird nicht der letzte Gastbeitrag gewesen sein. Nur der Text von Kurzfassung, und diesem Vorwort ist von mir. Danke Simona!

- Johannes
(P.S. in der Schweiz kennt man kein “ß”)

Der unterdurchschnittlich grosse Leutnant stapft mit überdurchschnittlich grossen Schritten ins Feld und ruft aufgewühlt: "Daher!" Wir haben bereits gelernt, dass wir rennen müssen, auch wenn gerade Pause ist und wir Rekruten (ja, in der Schweizer Armee wird nicht gegendert) - in der einen Hand den Becher mit warmem Tee, in der anderen einen Müesliriegel und im Mund einen Bissen von ebendiesem - etwas überfordert erscheinen. Das Rennen ist auch ohne Tee und Riegel für Rekruten eine ungewohnte Sache, weil hierbei die Grundtrageeinheit, also die Taschen rund um die Hüfte in denen Magazine, Feldflasche, Pamir (der Gehörschutz) und Schutzmaske versorgt werden, unangenehm auf und ab schwenkt, sodass wir unsere Arme bei schneller Fortbewegung etwas unnatürlich heben müssen. Bedingt durch die klobigen Kampfstiefel und das unebene Feld, kommt auch noch ein fieses Stolperrisiko hinzu. Das "Daher" ist ein Halbkreis rund um den Vorgesetzten. Bei 40 Rekruten dauert es eine Weile, bis alle ihren Platz gefunden haben. Der Leutnant ist ungeduldig. Es folgt ein sogenannter "ZS" (militärdeutsche Abkürzung für Zusammenschiss). Er wirft uns vor, wir hätten nach drei Wochen noch immer nicht kapiert, wie man sich im Militär grüsst. Denn wenn ein Vorgesetzter vorbeikommt, gilt es, unverzüglich eine Gefechtsmeldung ("Zug XY, Kompanie XY") zu machen und damit die formalen Grussregeln einzuhalten. Für dessen Unterlassung sollen wir nun alle zum 500 m weiter gelegenen Hügel rennen, dort gegenüber dem Hügel eine Gefechtsmeldung machen und wieder zurück rennen. Die angespannte Stimmung verkehrt sich in Stress. Und wenn wir Stress haben, denken wir nicht mehr. Dann machen wir einfach.

Angesichts einer weitreichenden Wehrpflicht für Männer mit Schweizer Nationalität, verfügen von den 40 Rekruten in unserem Zug höchstens fünf oder sechs (davon wir zwei Frauen) über intrinsische Motivation. Während den 4 1/2 Monaten Rekrutenschule werden die zum Einrücken gezwungenen Schweizer nicht nur ausgebildet, sondern auch "erzogen". So steht es im Dienstreglement. Mangelnde Privatsphäre, begrenzte Handlungsfreiheit und ein starrer Zeitplan prägen das Geschehen.

Mein Kamerad zuckt mit den Schultern: "Keine Ahnung. Ich denk mir einfach; Augen zu und durch", antwortet er mir auf meine Frage, wie es um seine Motivation stehe. Die Alternative Zivildienst kam für ihn nicht in Frage, weil dieser 1.5 Mal länger dauert als die Diensttage in der Armee. Doch als es ums Thema "Weitermachen" geht, wird die Diskussion lebhafter. Gemäss Verfassung können Soldaten in der Schweiz zur Beförderung gezwungen werden, sodass sich ihre Dienstpflicht verlängert. Man darf also nicht als geeignete Führungskraft herausstechen, ansonsten läuft man Gefahr, eine zweite Rekrutenschule als Gruppenführer (im Grad vom Wachtmeister) zu absolvieren. Die Strategien zu dessen Vermeidung werden als "u-booten" bezeichnet; möglichst weder positiv noch negativ auffallen ist hierbei das Ziel. Ich erschrecke, als ein Kamerad mit bestimmter Stimme sagt: "Wenn ich weitermachen muss, schiess ich mir ins Bein. Diese Scheisse tu ich mir kein zweites Mal an."

Die Wehrpflicht, wie sie in der Schweiz seit Jahrzehnten existiert, ist rechtlich sowie politisch fragwürdig. Sie legitimiert sich besonders prozessual-politisch; die letzte Abstimmung zur Aufhebung der Allgemeinen Wehrpflicht wurde von der Stimmbevölkerung 2013 mit 73.2% (bei einer Stimmbeteiligung von 47%) abgelehnt. Bereits in der ersten Woche wurden wir Rekruten darauf aufmerksam gemacht. "Weshalb sind Sie hier?" fragt uns der Kompanie-Kommandant in der Theorie-Stunde spätabends und schaut in müde Gesichter. Er beantwortet die Frage gleich selbst:"Weil es die Mehrheit des Schweizer Volkes so will." Inhaltlich widerspricht die Wehrpflicht für Männer (Artikel 59) jedoch der Gleichstellung von Mann und Frau (Art8) sowie dem. Verbot gegen Zwangsarbeit. Die Vielfältigkeit des Staates führt auch zu strategie-politischen Widersprüchen. Zudem stehen zahlreiche ethische Fragen im Raum. Es bleibt zu hoffen, dass im Rahmen der Neutralitätsdebatte, die durch den Krieg in der Ukraine neu aufflammte, auch die Wehrpflicht wieder von breiteren Gesellschaftsschichten unter die Lupe genommen wird.

Während dem ich und meine Kameraden hörbar schnaubend dem Hügel salutieren, sollte sich dieses «Schweizer Volk» vermehrt fragen, ob ein liberal-demokratischer Staat seine Bürger dazu zwingen dürfen soll, andere Menschen im Kriegsfall zu töten und sich selbst in Lebensgefahr zu begeben.

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