Überoptimistisch - ein strukturalistisch kritischer Gastessay
Kurzfassung: Ein kritischer Gegenessay auf den Beitrag vom 07. August 2022 von einer Freundin und Soziologin vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Warum man über dem Optimismus die Empathie nicht vergessen darf, und auch gesellschaftlich-soziale Verantwortungen gesehen werden wollen.
Inhaltliche Kritik kann die größte Form des Lobes sein. Ich möchte euch das wunderbare Gegenessey einer Freundin vom WZB vorstellen, welches ich in Reaktion auf meinen Beitrag vom 07. August 2022 erhalten habe. Nur Kurzfassung, Bild und Vorwort sind von mir hinzugefügt worden.
Johannes
Johannes Essay „Optimistisch Denken Lernen“ strahlt eine durchweg positive Grundhaltung aus: Warum beschweren wir uns eigentlich? Es gibt doch so viel schöne Dinge in unserem Leben. Wir müssen sie nur wahrnehmen! Doch so sehr ich mir wünsche, dass er damit Recht hat, gibt es Aspekte, die der Vollständigkeit halber auch genannt werden müssen: Dementsprechend sei dies hier ein „Reality-Check“, ein strukturalistisch kritischer Gastessay.
Eine der (meines Erachtens) größten Fehlschlüsse eines individualistisch-neoliberalistischem Weltbilds (und der entsprechenden Politik) ist, dass jeder „seines Glückes Schmied“ sei. Daran sind viele Dinge irreführend, der größte Fehler liegt jedoch darin, die strukturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Faktoren auszublenden, die uns alle unglücklich, unzufrieden machen. Diese Liste ist lang und sei hier nicht aufgeführt. Das heißt natürlich nicht, dass Glücklich oder Nicht-Glücklichsein deterministisch in die eine oder andere Richtung vorbestimmt wäre. Im Gegenteil. So sind beispielsweise viele psychotherapeutische Verfahren ja grundlegend darauf ausgelegt, unsere Einstellung zum Leben – trotz möglicherweise schwieriger Erfahrungen in der Vergangenheit – zu ändern und PatientInnen ein Gefühl von Selbstwirksamkeit, Zufriedenheit und vielleicht auch Glücklichsein zu ermöglichen.
Der Ansatz „Optimistisch denken lernen“, greift jedoch zu kurz und ignoriert fatalerweise ebendie Faktoren, die uns dabei mitunter persönlich oder strukturell im Weg stehen. Es gibt sicherlich eine Vielzahl an Menschen geben, denen grundlegend die Fähigkeit, den Fokus auf die positiven Aspekte zu legen, abhandengekommen ist. Die sich trotz relativer oder absoluter Privilegien beschweren, anstatt wertzuschätzen, die lästern, anstatt empathisch zu sein. Zwei zentrale Aspekte werden jedoch hierbei ausgeblendet, die allerdings von zentraler Bedeutung sind.
Erstens: Im Angesicht von Herausforderungen, Rückschlägen oder Verlusten ist es psychologisch gesehen absolut zentral, alle Gefühle anzuerkennen, und nicht, die unangenehmen zu ignorieren oder zu verdrängen[1]. Natürlich bringt das Fokussieren auf die positiven Seiten nicht notwendigerweise ein Verdrängen der negativen Aspekte mit sich. Jedoch, und hier der zweite Punkt, impliziert die „Glücklichsein-Lernen-Können“ Theorie die fragwürdige Annahme, dass der Schlüssel zum glücklich(er) sein lediglich ein positiveres Mindset und damit eine persönliche Entscheidung ist. Damit wird jedoch auch geleugnet, dass es für eine Vielzahl von Menschen eben keine Entscheidung ist. In Zeiten von sich verstärkenden sozialen und ökonomischen Ungleichheiten der ist der Anspruch des Sich-Für-Das-Glücklichsein-Entscheiden-Könnens ein Schlag ins Gesicht derjenigen ist, die von prekärer Arbeit, von Armut, von psychischen Erkrankungen und sozialer Exklusion betroffen sind. Hier bedeutet glücklicher zu werden, zunächst einmal die notwendigen Ressourcen zu sammeln, um die Entscheidung zum positiven Mindset überhaupt treffen zu können.
Meine Gegenrede soll nicht in Frage stellen, dass es uns allen guttut, die kleinen, die unscheinbar schönen Dinge wahrzunehmen. Und doch ist es wichtig, anzuerkennen, dass optimistisch denken lernen für viele weder machbar, noch der Schlüssel zum Glück ist.[2]
Fußnoten:
[1] Zum Beispiel: Ford, B. Q., Lam, P., John, O. P., & Mauss, I. B. (2018). The psychological health benefits of accepting negative emotions and thoughts: Laboratory, diary, and longitudinal evidence. Journal of Personality and Social Psychology, 115(6), 1075–1092. https://doi.org/10.1037/pspp0000157
[2] Koroll, C. (2022). Toxic Positivity: Von der Gefahr, sich selbst zu belügen. 7 Mind Magazin. https://www.7mind.de/magazin/toxic-positivity-gefuehle-ehrlichkeit-positiv-denken 12.09.2022